Der erste Brexit-Schock scheint verdaut zu sein, aber die drohenden Konsequenzen des EU-Ausstiegs Großbritanniens lassen auch die britische Ölbranche über die Zukunft rätseln - und mit ihr Millionen von Autofahrern, Heizungsbesitzern und Anlegern. Rohstoffkonzerne fördern in der Nordsee die wichtige Ölsorte Brent. Was bedeutet es, wenn das Vereinigte Königreich nun womöglich dem europäischen Binnenmarkt den Rücken kehren muss?
Experten erwarten: Die deutschen Verbraucher dürften den Brexit beim Tanken und Heizen kaum zu spüren bekommen. "Wir sehen bislang nicht, dass sich für Tankkunden und Nutzer von Heizöl in Deutschland etwas ändert", heißt es beim Mineralölwirtschaftsverband in Berlin. Auch das schwache britische Pfund wirke sich kaum auf die Ölpreise aus, weil das schwarze Gold meist in Dollar gehandelt werde.
Branchenbeobachter halten es für unwahrscheinlich, dass das Votum der Briten für einen EU-Ausstieg starke Rückwirkungen auf den weltweiten Ölpreis haben wird. Zwar war kurzfristig der Brent-Preis unmittelbar nach dem Referendum noch um über fünf Prozent gefallen. Danach aber gab es schnell eine Erholung.
Probleme indes könnten die Ölförderanlagen in Großbritannien bekommen: Sie hätten Investitionen eigentlich bitter nötig. Ein Drittel der Anlagen seien über 30 Jahre alt, schätzen Experten beim schottischen Beratungsunternehmen Wood Mackenzie. Eine so lange Betriebszeit sei eigentlich gar nicht vorgesehen. Doch Nachbesserungen lohnen sich wegen der momentan niedrigen Ölpreise nicht. Rund 30 Prozent der britischen Förderanlagen schreiben den Analysten zufolge Verluste.
Und jetzt auch noch der Entscheid für den EU-Austritt. «Es gibt infolge des Brexit eine Menge politischer Unsicherheit in Großbritannien und das erhöht die Komplexität der Investitionsentscheidungen zusätzlich», sagt Wood Mackenzie-Expertin Fiona Legate. Für Rainer Wiek von der Fachpublikation «Energie Informationsdienst» ist insbesondere die Frage wichtig, ob Schottland mit seiner Offshore-Ölindustrie im Königreich bleibe oder sich in einem zweiten Referendum für den Verbleib in der EU entscheide. "Man wird sich ansehen müssen, wer dann Zugriff auf das Öl hat", sagt Wiek.
Die britischen Ölkonzerne müssen nun erst einmal abwarten, welche Auswirkungen der anstehende Brexit längerfristig auf die Rohstoffpreise und die Wechselkurse hat. Damian Kahyam, Analyst bei der Umweltschutzorganisation Greenpeace, hält zudem Handelsbarrieren und weitere Investitionshemmnisse für möglich. Schon alleine das schwache Pfund könne infolge des Brexit-Votums "die Kosten neuer Energieinfrastruktur hochschießen lassen, weil vieles davon importiert wird".
Dabei gilt jetzt schon: Wenn Ölkonzerne in Großbritannien Geld in die Hand nehmen, dann häufig für den Abbau statt für den Aufbau von Förderanlagen. Gebremst wird die Demontage manchmal nur noch davon, dass Konzerne wie der dänische Förderer Maersk Oil auf eine Genehmigung der Behörden warten müssen. Selbst der britisch-niederländische Öl-Gigant Royal Dutch Shell zieht sich aus einem seit den 1970er Jahren betriebenen Brent-Feld zwischen den Shetland-Inseln und Norwegen zurück. Im zweiten Quartal verdiente der Konzern 1,175 Milliarden Dollar (rund 1 Milliarde Euro) und damit gut 70 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Ende Mai kündigte der Konzern an, bis zum Jahresende weitere 2200 Jobs abzubauen - insgesamt fallen dem Ölpreistief dann mindestens 12 500 Arbeitsplätze zum Opfer. "Dies sind schwere Zeiten für unsere Industrie", sagte Shell-Manager Paul Goodfellow. Konkurrent BP leidet ebenfalls: Der bereinigte Gewinn brach im zweiten Quartal um 45 Prozent auf 720 Millionen Dollar ein.
Der britische Ölkonzern Oil & Gas UK schätzt die Gesamtkosten für Stilllegungen von britischen Produktionsanlagen über die kommenden zehn Jahre auf 16,9 Milliarden Pfund (rund 20,2 Milliarden Euro). Das sind 16 Prozent mehr als noch im Jahr 2014 angenommen. Aus Sicht der britischen Behörden geht es längst nicht mehr darum, den Abbau aufzuhalten, sondern in geordnete Bahnen zu lenken. "Die Öl- und Gasindustrie in Großbritannien ist weitgehend unerfahren mit Stilllegungsprojekten im großen Stil", heißt es in einem nach dem Brexit-Votum vorgelegten Strategiepapier. Nun gelte es, von Erfahrungen anderer Industrien zu lernen.
Das Hauptproblem der britischen Ölmultis ist aber nicht der Brexit, sondern der niedrige Ölpreis. Noch immer haben sich die weltweiten Preise nicht von ihrem starken Einbruch seit Mitte 2014 erholt. Damals kostete ein Barrel (159 Liter) des Nordseeöls Brent noch deutlich über 100 Dollar, dann stürzte der Preis bis Anfang 2016 unter 30 Dollar ab. Trotz einer Erholung seit einigen Monaten liegt der Preis weiterhin fast durchgängig unter der Marke von 50 Dollar.
Die Briten trifft das besonders hart, denn die Förderung in der Nordsee gehört zu den teuersten der Welt. (dpa/Jan-Henrik Petermann)