Das Großherzogtum Luxemburg ist für viele Dinge bekannt: seine gute Küche etwa, die deutsche Deftigkeit mit französischer Raffinesse vereint. Oder seine gleichnamige Hauptstadt, wo der Europäische Gerichtshof und weitere EU-Verwaltungsstellen residieren. Doch für Größenrekorde ist einer der kleinsten Flächenstaaten der Welt nicht bekannt. Dabei gibt es auch hier Großes zu bestaunen: Shell hat den Umbau an der weltgrößten Tankstelle abgeschlossen und sie feierlich wiedereröffnet.
Als größte Tankstelle der Welt hatte Shell die Station bereits im vergangenen Jahr bezeichnet. Damals hatte die MÖG mitgeteilt, die Lizenz für den Betrieb der Station für weitere zehn Jahre bekommen zu haben, die Shell seit mehr als 30 Jahren durchgehend betreibt. Das Attribut „weltgrößte“ bezog die MÖG nicht auf das 60.000 Quadratmeter große Areal und auch nicht auf die 51 Zapfpunkte für Pkw und Lkw. Gemeint war der Kraftstoffabsatz pro Jahr, der mit 300 Millionen Litern so hoch ist, wie an keiner anderen Station auf dem Erdball. Nun aber, nachdem Shell die Tankstelle zweieinhalb Monate lang modernisiert hat, könnte dieser Gigantismus eine neue Dimension annehmen. Durch ein neues Betankungssystem, das die Standzeiten für Lkw deutlich verkürzt, und ein verbessertes Serviceangebot im runderneuerten Hauptgebäude könnten noch mehr Kunden noch mehr Kraftstoff in Berchem tanken.
Berchem, so heißt das benachbarte Dorf, in dem rund 900 Menschen leben, und das zur Gemeinde Roeser gehört. Dessen Bürgermeister zählte ebenfalls zu den rund 200 Gästen, die Shell zur Wiederer- öffnungsfeier im Juni eingeladen hatte. Wenig überraschend fand Tom Jungen viele lobende Worte für das Tankstellenprojekt, etwa dass ein Projekt für das normalerweise sieben Monate veranschlagt werden, in gerade einmal zweieinhalb abgeschlossen wurde. Still und leise erlaubte er sich dann aber doch diesen einen Kritikpunkt: Man wäre schon froh, wenn durch höhere Steuern etwas mehr von dem Kuchen der Gemeinde zukäme und nicht ein gar so großes Stück der Mineralölgesellschaft bliebe.
Das ist dann auch schon das Erfolgsgeheimnis der Luxemburger Tankstellenlandschaft, die derart floriert, dass manch einer gar von einem Tankstellenstrich spricht. Das Steuerparadies ermöglicht deutlich niedrigere Preise als die angrenzenden Länder Deutschland, Belgien und Frankreich. Fuhrparkdisponenten lassen ihre Fahrer in Luxemburg noch einmal richtig volltanken, ehe man das Transitland wieder verlässt.
Bei Shell weiß man um das Potenzial der Kundengruppe Lkw-Fahrer. Auf sie zielen die meisten Veränderungen ab. Um den Zeitdruck eines Transporteurs wissend, hat die MÖG ein schnelleres Tanksystem installiert. Von nun an können Fahrer an allen Zapfpunkten ihren Lkw von beiden Seiten mit Diesel betanken und zusätzlich noch den Zapfhahn für Adblue ansteuern. Dadurch wird die Tankzeit um 30 bis 50 Prozent reduziert. Eine herkömmliche Standzeit von 16 Minuten verringert sich so auf bis zu acht Minuten – eine enorme Zeitersparnis für den Tankenden und natürlich auch für die hinter ihm wartenden Fahrzeuge.
Doch selbst die Wartezeit beim Tanken ist nicht länger verlorene Zeit. An allen 24 Zapfpunkten wurden interaktive Infoscreens eingerichtet. An den Touchscreen-Bildschirmen kann sich der Fahrer in 13 Sprachen über die aktuelle Verkehrssituation und die Wetterprognose für die vor ihm liegende Route informieren – und natürlich über Angebote und Aktionen im Shop im Hauptgebäude. Hat er dann immer noch etwas Zeit, kann er sich am neu eingerichteten Truck Point, der in die Mitte der zwölf Doppelreihen gebaut wurde, einen Kaffee besorgen. So muss er nicht die Extrameter in den Shop machen, sondern kann bei Zeitdruck direkt wieder auf die Straße.
Für diejenigen, die den Tankstopp mit ihrer gesetzlich vorgeschriebenen Ruhezeit verbinden, hat sich Shell noch ein paar Services einfallen lassen. Tankt ein Trucker über 500 Liter, erhält er neben der Rechnung einen zusätzlichen Coupon. Mit diesem bekommt er an einem Automaten im Hauptgebäude sogenannte Token. Das sind Marken, die er entweder für die Dusche, den Toilettengang oder einen Kaffee einsetzen kann. Darüber hinaus erhalten Kraftfahrzeugfahrer im Shop Rabatte auf Trucker-Angebote wie zum Beispiel Gulaschsuppen, die dann nur zwei Euro anstatt regulär vier kosten.
Frequenz dank Tabak
Das Shopkonzept ist ein bekanntes: Auch in Luxemburg ist alles im „deli2go“-Konzept gestaltet auf einer Fläche, die gefühlt nicht viel größer ist als in einer gewöhnlichen Tankstelle – obwohl an Spitzentagen bis zu 5.000 Besucher hineinströmen. Ein Frequenzbringer ist dabei der günstige Tabak. Ein Monitor über dem POS weist das Sparpotenzial gegenüber den angrenzenden Nachbarn auf: Beim Kauf einer Stange Winston-Zigaretten sparen Raucher fast zwölf Euro gegenüber einem Einkauf in Deutschland oder Belgien. In Frankreich müssten sie sogar 24 Euro mehr bezahlen.
Klar, dass sich auch am Tag der offiziellen Neueröffnung die Kunden insbesondere an den beiden Kassen tummeln, die zwei Schilder als „Pre-order Tabac“ ausweisen. Hier können Raucher größere Mengen an Tabak abholen, die sie zuvor an den Terminals im Shop bestellt haben. Nur so kann die Station offenbar den Stangenbedarf einigermaßen kalkulieren.
Hungrige finden im Bistrobereich neben den bekannten Backwaren und belegten Sandwiches nun auch heiße Suppen und Paninis. Zudem setzt Shell analog zu dem Aral-Rewe-to-go-Konzept auf eine höhere Präsenz von Frischeprodukten wie Obst und Smoothies.
Eine noch größere Auswahl bietet sich den Reisenden, wenn sie sich von einer Rolltreppe in das aufgesattelte obere Stockwerk fahren lassen. Dort treffen sie zunächst den Systemgastronomen McDonald’s an. Auch bei Hochbetrieb sollen sich keine langen Schlangen bilden, weil es mehrere Terminals für Vorbestellungen gibt. Hier kann der erfahrene Burger-Liebhaber jene unschlüssigen Großfamilien umgehen, die sich die möglichen Menü-Kombinationen vom Mitarbeiter gerne persönlich erklären lassen. Ist die Wahl per Touchscreen gefallen und die Bezahlung per EC- oder Kreditkarte abgeschlossen, informiert ein Screen, wann das Menü am Tresen abholbereit ist.
Etwas weniger futuristisch, dafür deutlich bunter geht es im benachbarten Shop Confiserie Le Paradis Sucré zu. Hier stapeln sich meterweise dragierte Schokolade, Kaubonbons und Gummibärchen jeder Farbe. Nebenan, bei Starbucks, kriegt der Kunde einen Fitmacher für die Weiterfahrt: Kaffee in allen erdenklichen Kombinationen, der wahlweise im stimmungsvollen Innenbereich oder auf der überdachten Terrasse mit Blick ins Hinterland getrunken werden kann. An speziellen Hotspots können Kunden zudem kostenlos Wi-Fi nutzen.
Aus dem Restaurantbereich führt eine Wendeltreppe hinab in das Erdgeschoss und – wer sich frisch machen möchte – noch weiter hinunter, bis zu den sanitären Einrichtungen. Dieser Abstieg ist gleichzeitig eine Reise in die Vergangenheit der Mineralölgesellschaft. Je tiefer man geht, desto ältere Firmenlogos von Shell trifft man an.
Das Sanitärkonzept „2theloo“ (deutsch: auf die Toilette) umfasst bunte, schrille Wandposter mit Tiermotiven in den Toilettenkabinen, die dem „Örtchen“ ebenso das Gruselimage nehmen sollen wie regelmäßige Reinigungskontrollen. Dafür verlangt der Betreiber 50 Cent, die aber auf Einkäufe im Shop anrechenbar sind. Für Fernfahrer gibt es im Untergeschoss zudem die Möglichkeit, sich eine Dusche zu nehmen und für Mütter und Väter, ihren Nachwuchs in einem mit Discokugel animierten Wickelraum neu zu pampern.
Die Marke „humanisieren“ Der Servicegedanke, das ist spürbar in dieser riesigen Tankstelle, zieht sich durch alle Bereiche: sei es am Forecourt, wo Pkw-Fahrer am Automaten bezahlen können oder mit Bargeld an der Drive-in-Kasse. Oder sei es im Shop, wo es ein großes Dienstleistungsangebot gibt. „Berchem ist ein Vorzeigebeispiel dafür, dass bei Shell der Kunde im Mittelpunkt steht“, sagt István Kapitány, Executive Vice President, Shell Retail. Das sei eines der Ziele, die der Konzern in den kommenden Jahren erreichen will, nämlich die Marke mehr zu humanisieren, sprich: relevanter für den Kunden zu werden, seine Bedürfnisse besser zu erkennen.
Dafür hat der Mineralölkonzern an seinem Prestigeobjekt, der weltgrößten Station, offenbar tief in die Tasche gegriffen. Wie tief, möchte Kapitány nicht sagen. Man habe sich im Konzern verständigt, über Projektkosten keine Angaben zu machen. Günstig, fügt er augenzwinkernd hinzu, war es aber nicht.
(Der Artikel erschien in Ausgabe 7 von Sprit+; Autor: Michael Simon)