Was macht ein junger Mann mit Affinität zur Gestaltung, aber keinerlei Talent zum Zeichnen? Für Tim Hölscher war die Antwort klar: Er studiert Fotografie. In einem Kurs über die Architektur der 1950er und 60er Jahre begegnete ihm das Thema, das ihn seither nicht mehr loslässt, nämlich die Tankstelle. Auf der Suche nach Inspiration kam er an einer Station in der Nähe seiner Wohnung vorbei. Deren Dachkonstruktion faszinierte ihn und passte auch in jene Zeit, die sein Fotokurs behandelte. Also Kamera raus und los ging’s.
„Die ersten vier oder fünf Tankstellen habe ich für den Schein in dem Kurs fotografiert“, erinnert sich Hölscher. Beim Betrachten der Bilder habe er dann gemerkt, dass die Bilder so, wie sie abgelichtet seien, noch nicht hundertprozentig funktionierten. „Zu viel hat noch abgelenkt von dem, was ich zeigen wollte und was ich als Betrachter gesehen habe.“ Deshalb bearbeitete er die Bilder und löste sie aus dem städtischen Kontext, indem er einen neutral grauen Hintergrund einfügte. So erreichte er sein Ziel, zu interpretieren, was der Architekt zu seiner Zeit mit seinem Entwurf zeigen wollte. Die Rückkehr zur Blaupause und zum damaligen Lebensgefühl.
„Zu der Zeit, als diese Tankstellen gebaut wurden, waren Aufbruch und Mobilität angesagt. Man hat einen Standort nicht über Farben wie Blau oder Rot-Gelb beworben, sondern darüber, dass man wirklich fähige Architekten angeheuert hat. Gerade diese Dachkonstruktionen aus Spannbeton sind sehr eindrucksvolle Bauten“, erklärt der Fotograf. Und durch die Bildbearbeitung könne er das wieder sichtbar machen.
Wie der Vater, so der Sohn
Die Affinität zur Gestaltung entdeckte der gebürtige Soester nach dem Abitur 2000 bei der begonnenen Ausbildung zum Schilder- und Lichtreklamehersteller. Nachdem er sich über die Inhalte des Designstudiums informiert und erste zeichnerische Versuche gemacht hatte („Die gingen extrem in die Hose“), fand er die Kamera als Möglichkeit, kreativ zu arbeiten und Bilder zu gestalten, ohne einen Stift in die Hand nehmen zu müssen. „Das kann ich bis heute nicht. Das kann mein Sohn besser als ich und der ist fünf“, erzählt Hölscher lachend. Sein Sohn kommt beim Zeichentalent also möglicherweise nicht nach seinem Vater, Hölschers eigene Begabung für die Fotografie könnte dagegen durchaus ein Erbe seines Vaters sein. Denn der war selbst ein begeisterter und, aus Sicht des Profi-Sohns, sehr guter Hobbyfotograf.
Auch in einer weiteren Hinsicht tritt Hölscher inzwischen in die Fußspuren seines Vaters: Er übernahm das Familienunternehmen, einen Heizungs- und Sanitärbetrieb in Soest. Als der Vater 2013 erkrankte, beschloss sein Sohn, seinen Lebensmittelpunkt zurück in die alte Heimat zu verlegen und sich in die neue Tätigkeit einzuarbeiten. Der Zeitpunkt war passend, denn Hölscher hatte gerade eine Familie gegründet „und Soest ist sehr schön, um Kinder großzuziehen“, sagt er aus eigener Erfahrung heraus.
Zunächst verbrachte der Fotograf drei Tage die Woche im Familienunternehmen, an den anderen beiden Tagen verfolgte er seine Kunst im eigens eingerichteten Atelier weiter. Seit dem Tod von Hölscher Senior 2015 ist die Geschäftsführung des Betriebs ein Vollzeitjob und die Zeit für die Fotografie wesentlich weniger. „Aber ich stelle noch relativ regelmäßig aus und arbeite an vereinzelten ausgewählten Fotoprojekten“, erklärt er. Derzeit sind seine Werke im Museum Art Plus in Donaueschingen im Rahmen der Ausstellung „Vollgas – Full Speed“ zu sehen.
Die Tankstellenserie umfasst inzwischen 13 Werke und Hölscher ist immer auf der Suche nach neuen Objekten. Wer eine Station vorschlagen möchte, kann das gerne mit einer E-Mail an die Adresse post@timhoelscher.com zusammen mit einem Bild der Tankstelle tun. „Dann bin ich schon fast unterwegs“, verspricht Hölscher.
(Autorin: Julia Richthammer; Der Artikel erschien in Sprit+ Ausgabe 9/2019.)