In den 2010er-Jahren war die Verkehrswende in aller Munde. Ob aufkeimende E-Mobilität, Fahrradboom, neue Kleinst- und Leichtbaufahrzeuge, das wachsende Heer von Telearbeitern, Ankündigungen bald autonom fahrender Autos, Riesendrohnen – alles schien in Bewegung, alles schien möglich. Auch das Pariser Klimaabkommen von 2015 nährte die Hoffnung auf ein Umdenken und den großen Wandel. Städteplaner und Thinktanks haben sich in dieser Zeit mit Konzepten und euphorisch vorgetragenen Zukunftsvisionen umwelt-, fußgänger- und fahrradfreundlicher, grüner und lebenswerter Innenstädte regelrecht überboten. Auch der Blick ins nahe Ausland, etwa nach Holland, zeigte: Wandel ist möglich. Doch mittlerweile macht sich vielerorts in Deutschland Ernüchterung breit. Etliche lokale Maßnahmen, die Verkehrswende konkret einzuleiten, sind aktuell mit massivem Gegenwind konfrontiert. Dabei offenbaren sich verhärtete und unversöhnliche Fronten, viele Bürger und Politiker machen sich sogar für eine Rückkehr zu alten Verhältnissen stark. War die Idee einer Verkehrswende also nur ein Strohfeuer?
Die Rückkehr zum Vor-Verkehrswende-Status fordern derzeit unter anderem Anwohner der Straße Deutzer Freiheit in Köln. Es handelt sich um einen besonders belebten Bereich im Stadtteil Deutz mit vielen kleinen Geschäften, Supermärkten und Restaurants, der grundsätzlich für den Autoverkehr erschlossen war. Meist ging es hier laut und chaotisch zu, eng ist es ohnehin. Im Juni 2022 startete ein zunächst auf ein Jahr angedachter Verkehrsversuch, in dessen Rahmen die Einkaufsmeile für den Autoverkehr gesperrt und in eine Fußgängerzone umgewandelt wurde, Radfahren jedoch erlaubt blieb. Die freigewordenen Pkw-Parkflächen nutzen seither etwa Restaurants für Außengastronomie, hinzu kommen neue Sitzmöbel und Pflanzkübel.
Gegen das vermeintliche Idyll hat sich jedoch schnell Widerstand formiert, den unter anderem Gewerbetreibende organisieren, die beklagen, dass sie mit Umsatzeinbußen zu kämpfen haben, seitdem ihre Geschäfte nicht mehr direkt für Autofahrer erreichbar sind. Geschäftsleute und Anwohner haben deshalb die Initiative Deutz gegründet, die sich für ein vorzeitiges Ende des bis November 2023 verlängerten Versuchszeitraums mit Protesten und sogar einer Klage stark macht. Befürworter und Gegner des Versuchs haben sich zwischenzeitlich zu Gesprächen zusammengefunden, die allerdings von einer vergifteten Stimmung geprägt waren, wie mehrere Kölner Lokalmedien berichten. Dabei scheinen die Gegner der Maßnahme keineswegs in der Mehrheit zu sein, was eine Befragung der Universität Bochum vom September 2022 andeutet, in der von 2.000 befragten Bewohnern des Stadtteils Deutz 60 Prozent die Ansicht vertraten, die Aufenthalts- und Lebensqualität hätte sich durch die autofreie Zone verbessert.
Mehrheiten und unpopuläre Meinungen
Mit Mehrheiten ist das allerdings so eine Sache, wie eine im Frühjahr im Rahmen der Mobilitätsstudie "Texlock New Bike Mobility Monitor 2023" durchgeführte Umfrage zur Verkehrswende ergab, laut der sogar 73 Prozent der Deutschen diese mit weniger Autoverkehr hin zu einer stärkeren Nutzung von ÖPNV und Fahrrad befürworten. Klarer können Mehrheiten eigentlich nicht sein. Doch die Umfrage zeigt auch: Lediglich 24 Prozent bejahen eine bedingungslose Verkehrswende, während die Hälfte (49 Prozent) an diese Bedingungen knüpft. In diesen Ergebnissen deutet sich an, dass zunächst begrüßte Maßnahmen möglicherweise das Stimmungspendel ins Gegenteil ausschlagen lassen. Frei nach dem Motto: Verkehrswende ja, aber doch nicht hier und doch nicht so!
Der Blick nach Holland zeigt andererseits, dass zunächst sogar unpopuläre Maßnahmen später auch großen Zuspruch finden können. So führten 2020 die Niederländer ein tagsüber auf den Autobahnen geltendes Tempolimit von 100 km/h ein, was damals allerdings von lediglich 46 Prozent der Bevölkerung befürwortet wurde. Zwei Jahre später sprachen sich hingegen 60 Prozent dafür aus, das Tempolimit auf sogar 90 km/h zu senken, wie das österreichische Nachrichtenportal Der Standard kürzlich berichtete. Das Beispiel zeigt: Zunächst bei Autofahrern unpopuläre Regelungen können also nachhaltig positiv von der Bevölkerung angenommen werden.
Gescheiterte Verkehrswendemaßnahmen
Die Ausgestaltung von Verkehrswendemaßnahmen kann allerdings auch zum Politikum werden, das Auswirkungen auf den Ausgang wichtiger Wahlen haben kann. Ein junges Beispiel dafür ist die im Mai 2023 abgehaltene Bürgerschaftswahl in Bremen, bei der die Verkehrswende-Partei Die Grünen eine empfindliche Schlappe einstecken musste. Als Hauptverantwortliche für das Debakel gilt die Spitzenkandidatin der Bremer Grünen und mittlerweile zurückgetretene Verkehrssenatorin Maike Schaefer, die 2019 ihr Amt unter anderem mit dem Ziel angetreten hatte, die Bremer Innenstadt bis 2030 autofrei zu machen. Es folgten viele Konzepte, jedoch wenig greifbare Umsetzungen sowie einige kleinere Maßnahmen, die wiederum heftige Kritik in der Öffentlichkeit entfachten. Für Schäfer führte das Verkehrswendeprojekt auch wegen der von ihren politischen Gegnern und der Medien emotional geführten Debatten in eine Sackgasse.
In Berlin haben Mobilitätswende-Maßnahmen jüngst ebenfalls für Verwerfungen gesorgt, die vielleicht nicht so entscheidend die Ergebnisse der Wiederholungswahl im Februar wie bei der Wahl in Bremen beeinflusst haben. Doch die neue Verkehrssenatorin Manja Schreiner geht mittlerweile hart ins Gericht mit der Verkehrswendepolitik der zuvor Rot-Rot-Grünen Regierung. Den Bau neuer geplanter Radwege hat die CDU-Politikerin mittlerweile gestoppt und fertiggestellte Radstreifen sogar überkleben lassen, um den Autoverkehr nicht zu stören. Den weiteren Wegfall von Parkplätzen will die Unionspolitikerin in Berlin verhindern. Die taz spricht in diesem Zusammenhang von einer "auto-ideologischen Rückwärtsrolle". Auch in diesem Fall polarisiert die Verkehrswende-Diskussion Politiker, Meinungsmacher und Bürger. Laut BZ eskaliert aktuell der Streit in Berlin um die Radwege.
Auf kommunaler Ebene ist es in Deutschland aus verschiedenen Gründen offensichtlich schwierig, Verkehrswende-Maßnahmen um- und langfristig durchzusetzen. Die Bundesregierung hat sich wohl auch deshalb kürzlich im Bundeskabinett auf eine Reform des Straßenverkehrsgesetzes (StVG) geeinigt, mit der ökologische und gesundheitliche Belange stärker Berücksichtigung in der Verkehrsplanung finden sollen. Wenn Bundestag und Bundesrat die Novelle Ende 2023 beschließen, bietet das Gesetz Kommunen zumindest mehr Spielräume für die Einrichtung etwa von Tempo-30-Zonen oder von neuen Radwegen.
Langsam, aber nachhaltig
Ganz sicher weiter Fahrt aufnehmen wird die Verkehrswende bei Technik und Produkten. 15 Millionen E-Autos, wie einst von der Bundesregierung ausgerufen, werden es wohl bis 2030 nicht auf deutsche Straßen schaffen. Doch die Elektro-Revolution ist längst in vollem Gange und wohl unumkehrbar. Sie wird allerdings langsamer Fahrt aufnehmen als zunächst von vielen erhofft und prognostiziert. Schon früh an die Verkehrswende glaubte etwa Pascal Blum, der 2012 in Berlin die E-Rollermarke Unu gründete und Verkehrswende-Willigen seither umweltfreundliche Fahrzeuge anbieten konnte. Ganz so enthusiastisch wie er in der ersten Boomphase seines Unternehmens war, ist Blum hinsichtlich der Verkehrswende nicht mehr, wie er gegenüber unserer Redaktion in einem Interview einräumte: "Mittlerweile blicken wir realistischer darauf. Vor zehn Jahren waren wir euphorisch. Damals haben wir geglaubt, in den nächsten zehn Jahren verändert sich mehr als in den vergangenen 50 Jahren. Das ist nicht wahr geworden. Das Schöne: Trotz der langsameren Geschwindigkeit der Verkehrswende ist sie sehr nachhaltig. Das sind Trends, die sich nicht mehr umkehren lassen. Dementsprechend sehe ich, dass es längere Zeit braucht.“