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Interview: Eine App reicht nicht

29.06.2020 09:16 Uhr
Convenience-Experte Christian Warning bei Hema
Convenience-Experte Christian Warning ist überzeugt: Foodservice und Technologie sind wie rechter und linker Schuh.
© Foto: Christian Warning

Für die Digitalisierung des Shopgeschäfts vergibt Christian Warning deutschen Tankstellen einen von zehn Punkten. Woran das liegt und was die Branche besser machen kann, erklärt der Convenience-Experte im Interview.

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Herr Warning, wenn nicht gerade eine Pandemie ist, sind Sie auf der ganzen Welt unterwegs, um sich Shopkonzepte anzusehen. Welches Beispiel in Sachen Digitalisierung des Shopgeschäfts hat Sie am meisten beeindruckt?

Das Paradebeispiel für Digitalisierung ist für mich Hema von Alibaba in Shanghai. Es ist eine Mischung aus Convenience Store, Restaurant, Logistikzentrum und Lieferservice. Hema hat dabei das Konzept Dual Retail, also online-to-offline und offline-to-online, komplett umgesetzt und macht 80 Prozent des Umsatzes online und nur 20 Prozent stationär. Ihr Versprechen: Im Umkreis von drei Kilometern liefern sie die Bestellung innerhalb von 30 Minuten aus. Ich sitze zu Hause, habe Lust auf Hummer und brauche noch zwei Liter Milch. Ich bestelle und bezahle alles über die App und bekomme die Ware spätestens in einer halben Stunde gebracht. Aber auch der Bezahlprozess im Shop ist reibungslos und digital. Dort kann ich beispielsweise mit Gesichtserkennung zahlen.

Welche Tankstellenunternehmen haben das Thema Digitalisierung gut umgesetzt?

Zum Beispiel Sheetzs in den USA, die die klassische Costumer Journey im Shop komplett digital abbilden: Mit Order-and-pay über die App kann der Kunde die Artikel vorbestellen und dann am Expressschalter abholen, sich ans Auto bringen oder nach Hause liefern lassen. Das Ganze ist verknüpft mit einem Loyality-System mit Gamefication-Elementen und Share-and-care-Elementen, das heißt der Kunde bekommt bei Weiterempfehlungen einen Vorteil. Auch bei den Bezahlmöglichkeiten hat der Kunde die Wahl: Er kann an der Zapfsäule zahlen, wenn er es eilig hat, und wenn er Zeit hat, kann er in den Shop gehen. Wenn er dort arbeiten möchte, steht ihm kostenloses WLAN zur Verfügung. Und die Unternehmen nutzen die App zur Datengewinnung, um dem Kundchen personalisierte Angebote machen zu können. Das Beispiel zeigt: Es reicht nicht, einfach nur eine App zu haben und dann ist das Thema Digitalisierung abgehakt.

Das sind alles Beispiele außerhalb von Deutschland, sogar außerhalb Europas. Auf einer Skala von eins bis zehn: Wie digital sind wir denn hierzulande?

Eins. (Lacht.) Wir Deutschen sind nicht gerade die Erfinder, wenn es um Digitalisierung und Innovation im Einzelhandel geht. Wir haben eher die Mentalität: Man muss nicht immer zu den ersten gehören. Erst einmal abwarten und gucken, was die anderen so machen. 

Könnte Corona das ändern?

Ja. Durch die letzten drei Monate wird es einen Quantensprung geben, was die reibungslosen und kontaktlosen Verkaufs- und Bezahlprozesse betrifft. Man sieht ja, wie schnell die Nutzerzahlen beim Thema Mobile Payment in den letzten Wochen nach oben gegangen sind. Viele Kunden, auch ältere, haben jetzt festgestellt, dass das kontaktlos Bezahlen mit Karte, mit dem Smartphone oder der Apple Watch viel smarter ist. Aber ein digitaler Bezahlprozess ist ja nicht alles, was Digitalisierung ausmacht.

Welche Bausteine gehören noch dazu?

Ich kann zum Beispiel nicht verstehen, dass es heute noch stationäre Shops ohne Bestell- und Bezahlfunktion über eine App gibt. Da gibt es schlüsselfertige Lösungen, die wenig kosten und innerhalb von einer Woche umsetzbar sind. Ich kann meine 30 Top-Artikel in einer Art Mini-Webshop darstellen und der Kunde kann die Produkte vorbestellen, bezahlen und sie beispielsweise an einem Expressschalter abholen oder sich ans Auto bringen oder sogar lassen. Da steckt ja nicht nur ein Sicherheits- und Hygiene-Effekt dahinter, sondern auch ein Service-Effekt. Westfalen geht hier mit dem Drive-in-Schalter schon in die richtige Richtung. Man muss sich einfach mal den Wettbewerb im Außer-Haus-Markt ansehen: In den USA ist das der absolute Supertrend: Fast-Food-Ketten machen in ihren Drive-thruroughs etwa 70 bis 80 Prozent ihrers Umsätze. In Deutschland ist es bisher nur die Hälfte, aber der Bereich wird zunehmen.

Für solche Konzepte braucht man aber mehr Personal …

Deshalb muss sich die Reallokcation des Personals verändern. Warum muss ich jemanden haben, der den Bezahlvorgang macht? Um einen Mars-Riegel und eine Cola zu kassieren, brauche ich heute eigentlich kein Personal mehr. Nur in Deutschland ist es noch so, dass es 40 besetzte Supermarktkassen gibt. Und den Kraftstoff kann ich heute schon an vielen Stationen an der Zapfsäule bezahlen. Klassische Kassen wird es deshalb zukünftig nicht mehr geben. Die Mitarbeiter können stattdessen auf Hygiene achten sauber machen und oder wie eine Art Concierge die Kunden begrüßen und Hilfestellung beim Check-out leisten.

Gibt es Gesellschaften, die beim Thema Digitalisierung eine Vorreiterrolle in Deutschland haben?

Wenn es um die Gewinnung von Daten und die Nutzung der Wi-Fi-Infrastruktur geht, würde ich Total nennen. Die setzen sich wirklich damit auseinander, wer der Kunde ist und wie ich ihn am besten anspreche. Denn On-size-fits-all von Flensburg bis zum Bodensee funktioniert heute nicht mehr. Man muss wissen, wer die Kunden am jeweiligen Standort sind. Dafür muss ich versuchen, den Kunden digital zu gewinnen, um Daten über ihn generieren zu können. Denn Daten sind kein Cost Center, sondern ein Profit Center und bieten den Retailern neue ErlösVerkaufsoptionenmöglichkeiten.

Werden wir in den nächsten fünf Jahren eine Digitalisierung in deutschen Tankstellenshops erleben?

Wenn ich aussitzen will, dass ich nur eine Tankstelle bleibe und wenn ich glaube, dass sich mein Forecourt-Angebot in den nächsten fünf oder zehn Jahre nicht ändern wird, weil Elektromobilität woanders stattfindet, dann mag es Standorte geben, die es mit ihrem bisherigen Geschäftsmodell schaffen werden. Aber in der Breite wird keiner überleben, der sich nicht mit Digitalisierung auseinandersetzt. Die werden einfach aus dem Markt gespült. Deshalb ist ein Paradigmenwechsel notwendig: Weg von der Tankstellendenke, dass ich dem Kunden erst etwas anbiete, wenn er zum Tanken eh schon da ist, hin zum Konzept eines Mobilitätshubs. Die Leute sollen kommen, wenn sie unterwegs sind, weil sie hier etwas Leckeres zu essen und guten Kaffee bekommen, weil sie dank kostenlosem WLAN arbeiten können und weil es viele weitere Angebote und Services wie Click-and-collect oder Fahrzeugwäsche ohne Aussteigen gibt. Und für all das ist Digitalisierung die Voraussetzung. (ab)

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