Frau Prof. Kmec, in Ihrer Untersuchung schreiben Sie, in der Gesellschaft gelte der Kauf von Blumen an einer Tankstelle als Fauxpas. Warum ist das so?
In der Gesellschaft haftet Tankstellen anscheinend das Image an, dass sie sehr mechanisch sind, was ja auch stimmt: Das Tanken ist ein sehr industrieller Vorgang. Der Kunde weiß, dass er dort zwar auch bedenkenlos Lebensmittel, Zigaretten und Alkohol kaufen kann. Aber Frischware stehen die Leute skeptischer gegenüber. Wir haben 3.300 Leute befragt und davon sind nur die wenigsten kategorisch dagegen, an der Tankstelle etwas anderes zu kaufen als nur Kraftstoff. Aber Blumen, Obst und Fleisch werden ambivalenter gesehen. Warum, ist schwierig zu sagen.
Vielleicht weil viele schlechte Erfahrungen mit Blumen von der Tankstelle gemacht haben?
Ja, es sind halt keine Fachgeschäfte. Wissen Sie, was lustig ist? Die interviewten Leute fanden, ein Blumenstrauß von der Tankstelle sei okay für die Schwiegermutter, aber nicht unbedingt für die Geliebte. Wenn man schnell einmal einen Blumenstrauß braucht, dann ist das durchaus akzeptabel, aber nicht romantisch. Die Funktionalität des Ortes steht bei der Tankstelle klar im Vordergrund gegenüber der Persönlichkeit.
Deshalb haben Sie Tankstellen als Zwischenräume von Orten und Nicht-Orten definiert. Können Sie plastisch erklären, warum Tankstellen weder das eine noch das andere sind?
Der Anthropologe Marc Augé ging von der Idee aus, dass manche Orte ihren Charakter verlieren und anonym werden, weil sie Transitorte sind. Das geht so weit, dass der Mensch sie gar nicht mehr wahrnimmt: Sie werden zu Nicht-Orten. Eigentlich könnte man meinen, Tankstellen sind per Definition Transitorte. Die Leute gehen ja nicht dorthin, um dorthin zu gehen, sondern um sich einzudecken und weiterzufahren. Aber dann haben wir festgestellt, dass es komplexer ist: Tankstellen sind weder prinzipiell Orte noch Nicht-Orte. Wenn man beispielsweise einen guten Kontakt zu der Bedienung hat und ein interessantes persönliches Gespräch führt, dann wird die Tankstelle zu einem Ort, mit dem die Menschen etwas anfangen können. Er ist kein Nicht-Ort mehr, den man nach dem Verlassen gedanklich abhakt.
Was führt die Menschen Ihrer Erhebung nach über den Kraftstoffkauf hinaus an die Tankstelle?
Viele Jugendliche gehen beispielsweise dorthin, um sich zu treffen. Andere machen dort ihre Hausaufgaben, weil sie zu Hause keine Ruhe haben. Kleine Rückzugsbereiche, wo man ungestört einen Kaffee trinken und lesen kann, sind für Jugendliche interessanterweise ein Ort, den sie mögen, gerade weil er anonym ist und ihnen keiner kontrollierend über die Schulter schaut. Das kann sehr angenehm sein.
Und Erwachsene?
Für ganz viele Menschen, besonders für Luxemburger, sind sie eine Art Notlösung. Nach dem Ladenschluss sind sie der einzige Ort, wo man Lebensmittel kaufen kann, wodurch die Tankstelle für viele zu einer Behelfsstruktur wird. Da in Luxemburg die Ladenöffnungszeiten sehr streng sind, spielen sie eine große Rolle für die Nahversorgung. Und dies nicht nur bei jungen Leuten und Singles, sondern auch bei anderen Verbrauchern.
Wie nehmen Menschen Ihren Untersuchungen nach Tankstelle als Raum wahr?
Die erste Reaktion auf Tankstellen ist generell: Dazu fällt mir gar nichts ein. Der klassische Nicht-Ort. Da passiert ja nichts. Aber wenn man ein bisschen nachhakt, fallen den meisten Menschen Geschichten ein, die sie dort erlebt haben, Ängste, die sie hatten, weil der Nachbar mit dem Feuerzeug spielte. Was uns dann interessiert hat: Wie prägen Bilder, die wir aus Filmen im Kopf haben, die Alltagswahrnehmung unbewusst?
Also haben Filme dazu beigetragen, dass Menschen Tankstellen als gefährliche Orte wahrnehmen?
Es ist schwierig, das zu beweisen. Aber wie die Menschen über Tankstellen reden, da kommen oft manche Klischees drin vor: Explodierende Tankstellen werden Sie in der Realität quasi nicht finden, aber im Film schon. Oder auch die Tankstelle als Ort der komischen Gestalten, die herumhängen – dieses Klischee ist nicht beweisbar, sondern kommt aus Filmen, wo Tankstellen ein Ort sind, der etwas abseits der Gesellschaft ist und von daher auch ein Treffpunkt, der Angst machen kann.
Würden Sie sagen, dass Tankstellen ihr schlechtes Image zum Nachteil gereicht?
Ich glaube nicht, dass sie generell einen schlechten Ruf haben. Wenn man sich die Interviews anhört, ist die allererste Reaktion, dass die Befragten nichts mit Tankstellen anfangen können. Aber das ist nicht negativ gemeint. Tankstellen sind halt ein totaler Alltagsort, den man gar nicht wahrnimmt. Fragt man dann nach, kommen durchaus positive Empfindungen zum Vorschein, die vor allem mit Urlaub verbunden sind. Leute, die in den Urlaub fahren, haben an den Raststätten ein Feriengefühl, sie brechen aus der Routine aus. Dagegen bringen Menschen, die im Alltag an die Tankstelle kommen, den Alltagsstress mit. Sie wollen sich nicht lange aufhalten müssen.
Sie schreiben, die Grenze zwischen Nicht-Ort und Ort können Mitarbeiter abbauen, indem sie soziale Interaktion initiieren. Ein schönes Bistro und nettes Personal überreden manchen Gast also zu einem Stopp bei einem Cappuccino, richtig?
Manche Interviewpartner sehen das so und finden, dass die Tankstelle dadurch menschlicher wird. Aber andere Leute suchen tatsächlich bewusst nicht dieses persönliche Gespräch. Viele sind sogar froh, wenn sie mit gar niemandem reden müssen und einfach nur die Automaten bedienen können. Es hängt also von der Person und ihrem Stresspegel ab, wie viel Kontakt das Tankstellenpersonal aufnehmen kann.
Viele Kommunikationstrainer raten aber, man solle unbedingt den Kontakt suchen.
Unsere Erhebungen gehen in eine andere Richtung. Ich glaube, man muss offen sein für das, was der Kunde zulässt. Das ist sehr unterschiedlich.
Was können Tankstellenbetreiber tun, damit ihre Kunden den Ort bewusster wahrnehmen?
Das kann ich nicht so einfach beantworten. Aber generell sehe ich gerade bei großen Tankstellen ein Bemühen, den Aufenthalt gemütlicher zu gestalten und die Dauer zu verlängern. Urlauber zieht das vielleicht an, auch manche jungen Menschen, die noch im Elternhaus wohnen und alternative Aufenthaltsorte suchen, eventuell auch Lastwagenfahrer. Letztere sind allerdings eine spezielle Kundschaft, die gezielter zu untersuchen wäre. Aber im Alltag bezweifle ich, dass sich Menschen dort gerne aufhalten möchten – egal wie schön das Bistro ist. Die meisten wollen nur rasch etwas besorgen und weiterkommen.
Also haben Tankstellen allein schon wegen ihres funktionalen Charakters keine Chance, jemals als bewusste Orte wahrgenommen zu werden?
Doch, sie werden von manchen Kunden in bestimmten Situationen sehr bewusst wahrgenommen. Allerdings wird eine Tankstelle immer eine Art Hybrid sein, wo der Mensch auf die Maschine trifft und diese Mechanisierung nimmt ja eher noch zu als ab. Von daher wird sie trotz aller Bemühungen hin zu mehr persönlicher Bedienung und Atmosphäre im Shop immer ein Zwischenort bleiben.
(Das Gespräch führte Michael Simon. Es ist erschienen in Sprit+ 1./2.2017.)
Sonja Kmec ist Professorin an der Universität Luxemburg mit dem Fachgebiet „Europäische Geschichte vom 16. bis 21. Jahrhundert“. Im Rahmen eines interdisziplinären Projekts hat sich Kmec mit dem Raum Tankstelle befasst. Ihre These: Tankstellen sind nicht per se Nicht-Orte. Ob sich ein Kunde an seinen Besuch erinnert, hängt vom Erlebnis ab.